28.09.2023

«Die Migranten sind schuld» - Warum diese Aussage für die Erklärung von Kriminalitätsphänomenen nicht taugt

Ein Zwischenruf von Professor Dr. Dirk Baier

«Die Migranten sind schuld» - Warum diese Aussage für die Erklärung von Kriminalitätsphänomenen nicht taugt

In den letzten Wochen wird sich in Deutschland wieder intensiver mit der Jugendkriminalität beschäftigt. In Halle bspw. bestimmt dieses Thema derzeit die medialen und politischen Diskussionen. In der Bevölkerung setzt sich dabei zunehmend eine Erklärung für die entsprechend der Kriminalstatistiken steigende Jugendkriminalität fest: «Die Migranten sind schuld». Zwar ist in der Fachwelt klar, dass solch eine Erklärungen weder stimmig noch hilfreich ist; dennoch ist zu fragen, was sie anscheinend so überzeugend macht und wie wir dieser gefährlichen Verkürzung entgegentreten können. Wenn man an diese Erklärung denkt, kann einem folgende Geschichte in den Sinn kommen: Eine Frau kommt zum Arzt. Sie berichtet von regelmäßigen Kopfschmerzen und fragt nach Hilfe. Der Arzt antwortet: «Nun, Frauen haben statistisch gesehen ein höheres Risiko, an Kopfschmerzen zu leiden. Ich kann daher nichts für Sie tun; schuld ist ihr Frausein.» In der gleichen Weise funktioniert die Erklärung «die Migranten sind schuld»: Es wird sich keine Zeit für eine individuelle Diagnose genommen, es werden die Hintergründe nicht ergründet und es wird damit verpasst, eine echte Grundlage für die Behandlung zu legen; stattdessen wird eine Gruppenzugehörigkeit mit der Ursache gleichgesetzt. Bei einem Arzt würden wir ein solches Vorgehen niemals akzeptieren. Warum akzeptieren viele es aber dann mit Blick auf die Erklärung von Kriminalität?

Was an «die Migranten sind schuld» tendenziell richtig ist

Daten zum Zusammenhang von Migration und Kriminalität sind nur in begrenztem Maße verfügbar. Die Polizeiliche Kriminalstatistik weist allein die Staatsangehörigkeit von Tatverdächtigen aus, nicht einen möglichen Migrationshintergrund – was aufgrund der Komplexität der Erfassung dieses Hintergrunds auch verständlich ist. Hat ein Jugendlicher, dessen Urgroßeltern aus der Türkei stammen, einen Migrationshintergrund? Und ein Jugendlicher, dessen Urgroßeltern nach dem Krieg aus Polen vertrieben wurden?

Greifen wir nur den Bereich der Gewaltkriminalität heraus – die Delikte des Diebstahls, des Betrugs oder der Sachbeschädigung, die deutlich häufiger als Delikte der Gewaltkriminalität vorkommen und die mit Blick auf die Herkunft der Tatverdächtigen weniger interessant sind, weil hier eben auch sehr viele Deutsche als Tatverdächtige in Erscheinung treten – spricht die Polizeiliche Kriminalstatistik eine deutliche Sprache: Von den 178.224 Tatverdächtigen des Jahres 2022 hatten 69.086 eine ausländische Staatsangehörigkeit (38,8 %), entsprechend 109.138 eine deutsche. In der Bevölkerung lag im selben Jahr der Anteil an Ausländerinnen und Ausländern bei 13,1 %. Dies bedeutet, dass das Risiko, polizeilich wegen eines Gewaltdelikts registriert zu werden, bei Ausländerinnen und Ausländern etwa dreimal höher liegt. «Die Migranten sind also schuld». Allerdings Obacht: Erstens ist aus der Forschung bekannt, dass ausländische Täterinnen und Täter eher angezeigt werden als deutsche. Zweitens gehen in die Bevölkerungszahlen Kriminaltouristen, sich illegal hier aufhaltende Personen usw. nicht ein, in die Tatverdächtigenzahlen hingegen schon. Aber auch wenn es möglich wäre, beides aus den Vergleichen irgendwie herauszurechnen, würde ein erhöhtes Gewaltrisiko ausländischer Personen bestehen bleiben.

Neben der Polizeilichen Kriminalstatistik kann auf Basis von Befragungsstudien das Gewaltverhalten untersucht werden. Die Ergebnisse bestätigen die Kriminalstatistik. So hat sich in einer großen Jugendstudie in Niedersachsen gezeigt, dass Migrantenjugendliche zu 10,8 % im letzten Jahr mindestens ein Gewaltdelikt verübt haben, deutsche Jugendliche zu 6,0 % (https://bildungsinstitut-justizvollzug.niedersachsen.de/download/177469/Justiz-Newsletter_Nr._34_12_2021_.pdf, S. 34). Der Migrationshintergrund kann in solchen Befragungen durch Fragen nach Geburtsland und Staatsangehörigkeit der Eltern ermittelt werden. Mit Ausnahme von asiatischstämmigen Jugendlichen zeigen sich dabei für alle Migrantengruppen erhöhte Gewaltraten. Auf Basis solcher sog. Dunkelfeldbefragungen könnte also auch gefolgert werden «Die Migranten sind schuld».

Was an «die Migranten sind schuld» völlig falsch ist

Ein Gedankenexperiment: Angenommen, man würde allen ausländischen, in deutschen Haftanstalten inhaftierten Gefangenen die deutsche Staatsangehörigkeit schenken. Würde dies zur Folge haben, dass sie nach ihrer Entlassung nicht mehr kriminell sind? Oder angenommen, man nähme deutschen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern morgen die deutsche Staatsangehörigkeit weg. Würden sie dann ab übermorgen kriminell werden? Die Antwort ist beide Male ein klares Nein. Dies macht folgendes klar: Die Staatsangehörigkeit – das Verfügen über diese oder ihr Fehlen – ist keine Ursache für Kriminalität. Ebenso ist ein Migrationshintergrund per se keine Ursache für Kriminalität. Über die Ursachen kriminellen Verhaltens, von genetischen über individuell die Persönlichkeit betreffenden, familiären, gesellschaftlichen usw. Faktoren liegen vielfältige kriminologische Befunde vor; die Staatsangehörigkeit gehört hier nicht dazu. Es handelt sich bei dieser um eine sog. Container-Variable; d.h. mit der Staatsangehörigkeit oder dem Migrationshintergrund sind ggf. weitere Faktoren verbunden, die als Ursachen von Kriminalität in Frage kommen. Zentral wäre, genau diese assoziierten Faktoren sichtbar zu machen, weil nur sie helfen, Prävention und Intervention wirksam zu gestalten.

Das Problem der Erklärung «die Migranten sind schuld» wir zudem bei einer etwas anderen Betrachtung der oben genannten Zahlen deutlich: Laut Polizeilicher Kriminalstatistik wurden im Jahr 2022 99,4 % der in Deutschland lebenden Ausländer NICHT wegen des Begehens einer Gewaltstraftat von der Polizei als Tatverdächtige registriert (69.086 Tatverdächtige auf 10,9 Millionen Ausländerinnen und Ausländer). Von allen Deutschen wurden 99,8 % NICHT wegen des Begehens einer Gewaltstraftat registriert (109.138 Tatverdächtige auf 72,3 Millionen). Die überwältigende Mehrheit aller in Deutschland lebenden Ausländerinnen und Ausländer (und Deutschen) verhält sich also gesetzeskonform. Auch für die angesprochene Jugendbefragung gilt dies: 89,2 % der Jugendlichen mit Migrationshintergrund haben KEINE Gewalttat in den letzten zwölf Monaten begangen; bei den deutschen Jugendlichen waren es 94,0 %. Es gilt also: Es sind bei weitem nicht alle Migranten gewalttätig; und einheimische Deutsche sind alles andere als gewaltlos.

Im Übrigen: All jenen, die bei der Erklärung von Kriminalität auf die Herkunft verweisen, sollte klar sein, dass die Geschlechterunterschiede letztlich deutlich ausgeprägter sind als die Herkunfts-Unterschiede: Während ausländische Tatverdächtige in der Polizeilichen Kriminalstatistik zwei- bis dreimal häufiger als Gewalttäter registriert werden, werden Männer mehr als fünfmal häufiger als Frauen als Gewalttäter registriert. Eigenartig, dass diese Tatsache nur selten zu der Aussage führt «die Männer sind schuld» – die natürlich in dieser Pauschalität genauso falsch wäre.

Warum «die Migranten sind schuld» als Erklärung derzeit für viele Menschen so überzeugend ist

Trotz dieser Fakten, die weitestgehend bekannt sind, hält sich die Erklärung, dass Migranten schuld seien, hartnäckig in der Bevölkerung. Gerade in Zeiten zunehmender Zuwanderung, in der das Thema und die migrierenden Menschen salienter sind (weil sich viele Nachrichten damit beschäftigen), rückt die Migration ins Zentrum der Erklärung von Phänomenen, die die Menschen beunruhigen. Würden andere Themen bzw. Personengruppen eine ebensolche Aufmerksamkeit erhalten, würden wir wahrscheinlich über auf diese Gruppen bezogene Schuldzuweisungen diskutieren. Es ist allerdings nicht allein die Salienz und die Medienpräsenz, die hier bedeutsam sind. Mindestens ein Aspekt macht die Erklärung im Vergleich zu anderen Erklärungen hoch attraktiv: Sie legt eine einfache Lösung des Problems nahe. Eigentlich müssten wir alle wissen, dass komplexe Probleme wie Gewalt und Kriminalität niemals einfach zu lösen sind; es braucht Anstrengungen auf vielen Ebenen, es braucht Zeit und Ressourcen, um erfolgreich zu sein. Vor dem Hintergrund der vielfältigen tatsächlichen und konstruierten gesellschaftlichen Probleme ist es aber durchaus einmal angenehm, wenn es eine einfache Lösung gibt: Wenn die Migranten schuld sind, müssen wir sie nur alle aus Deutschland ausweisen; danach bricht dann der Frieden aus. Nach den obigen Daten müsste man eigentlich eher folgern, dass man alle Männer aus Deutschland ausweisen sollte – aber wer kann das schon wollen (und umsetzen)? Die Migranten-sind-schuld-Erklärung ist, und das ist ihre zentrale Funktion, das klassische Sündenbock-Bild: Nicht wir, das Eigene, ist schuld; wir tragen keine Verantwortung. Schuld ist das Neue, das Fremde. Die Probleme werden externalisiert und damit zu den Problemen anderer erklärt. Werden die anderen entfernt, ist das Problem gelöst. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass solche Externalisierungen hochgefährlich sind, weshalb man ihnen vehement entgegentreten sollte.

Wie kann es mit der Erklärung «die Migranten sind schuld» weiter gehen?

Es wäre zweifelsohne wünschenswert, wenn sich die Menschen im Detail mit wissenschaftlichen Analysen und den Schlussfolgerungen daraus beschäftigen würden. Dies ist aber in Bezug auf Kriminalität ebensowenig realistisch wie mit Blick auf andere relevante Themen wie Klimaschutz, Atomkraft, Impfen usw. Dies bedeutet nun nicht, dass Wissenschaft nicht differenziert kommunizieren sollte; man sollte hiervon aber nicht allzuviel erwarten. Die Deutungskraft anderer, insbesondere in den sozialen Medien aktiver «Autoritäten» ist zum Teil weit grösser. Dennoch: Wie könnte es in Bezug auf die Migranten-sind-schuld-Erklärung weitergehen? Folgende Vorschläge: Erstens sollten die Zahlen und die Unterschiede, die sich mit Blick auf Kriminalität zwischen Einheimischen und Zugwanderten zeigen, klar angesprochen, aber auch kontextualisiert werden (eben in dem Sinne, dass uns bspw. Geschlechterunterschiede stärker interessieren müssten). Zweitens muss es darum gehen, die Container-Variable Migrationshintergrund mit relevantem Inhalt zu füllen. Dies wurde in der Vergangenheit wiederholt getan, muss aber auch vor dem Hintergrund weiterer bzw. neuer Zuwanderergruppen getan werden. Die Analysen der Vergangenheit haben klar ergeben: Weil Migrantinnen und Migranten eine durchschnittlich schlechtere soziale Lage (im Sinne von Bildung, Berufstätigkeit, Einkommen) aufweisen und weil sie durchschnittlich häufiger in gewaltaffinen Milieus leben (in denen bspw. die innerfamiliäre Gewalt noch häufiger praktiziert wird oder Männlichkeitsbilder noch stärker gelebt werden), treten sie häufiger mit Gewalt in Erscheinung. Wenn Deutsche diesen Bedingungen ausgesetzt sind, was sie tatsächlich auch sind, aber eben durchschnittlich seltener, treten sie genauso häufig mit Gewalt in Erscheinung. Bedeutsam für kriminelles Verhalten ist also das Lebensumfeld, sind die sozial-kulturellen Bedingungen, nicht der Migrationshintergrund. Diese sozial-kulturellen Bedingungen sind Ergebnis von gesellschafts-politischen Rahmenbedingungen. Diese sind deshalb drittens entsprechend zu gestalten: Jene Migranten, die langfristig hier in Deutschland bleiben, benötigen schnelle und intensive Integrationsangebote. Jene Migranten, für die dies nicht gilt, dürfen nicht in einem langen Stadium des Nichtstuns und der Duldung verharren. Viertens braucht es eine aktive Zivilgesellschaft, damit sich das Sündenbock-Bild nicht weiter festsetzt; es braucht Menschen, die solchen Parolen widersprechen, die Brücken bauen und gegenseitige Verständigung leben. Und es braucht, leider immer mehr, auch Vorkehrungen (wie Gesetze gegen Hassrede), die diese zivilen Helden wirksam schützen.

Ein Service des deutschen Präventionstages.
www.praeventionstag.de

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