Prävention braucht Praxis, Politik und Wissenschaft
12/13 Mai 2014
  • 3.363 Kongressteilnehmende und Besucher*innen davon 119 aus 28 Staaten
  • 297 Referierende
  • Abschlussvortrag „Big Data – Chancen und Risiken in der Prävention“ von Prof. Dr. Viktor Mayer-Schönberger
  • 8. Annual International Forum (AIF)
  • “Day of Debates“ organisiert in Kooperation mit dem European Forum for Urban Security - Efus
  • 110 Vortragsbeiträge (Vorträge, Sonderveranstaltungen, Projektspots)
  • 218 Ausstellungsbeiträge (Infostände, Infomobile, Sonderausstellungen, Poster)
  • Bühnenveranstaltungen und Schüleruniversität
  • Filmforum
  • 9 Begleitveranstaltungen
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Der 19. Jahreskongress fand am 12. & 13. Mai 2014 im Kongresszentrum Karlsruhe unter der Schirmherrschaft von Ministerpräsident Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg statt. Das Schwerpunktthema lautete „Prävention braucht Praxis, Politik und Wissenschaft“. Zum Abendempfang waren die Teilnehmenden in die Gartenhalle des Kongresszentrums geladen.

25 Jahre Deutscher Präventionstag
Ein Beitrag von Julia von Weiler

Psychologin; arbeitet seit 1991 zum Thema sexuelle Gewalt an Mädchen und Jungen. Seit 2003 leitet sie die inhaltliche Arbeit von Innocence in Danger e.V.

„Digitaler Kinderschutz im Zeitalter des digitalen Exhibitionismus - Eine (un-)lösbare Herausforderung?“ so lautete der Titel des Vortrags auf dem Deutschen Präventionstag im Mai 2014 in Karlsruhe.

Ein kurzer Blick ins Jahr 2014

Anfang Mai 2014 ging die Polizei in Aschersleben mit mehr als 100 Einsatzkräften gegen ein Missbrauchsnetzwerk vor1 . Festgenommen wurden zehn Männer im Alter zwischen 22 und 60 Jahren sowie eine 57 Jahre alte Frau.

Ebenfalls Anfang Mai 2014 nahm Interpol ca. 60 Betreiber eines globalen Sextortion-Rings2 fest, der den Opfern zigtausende US-Dollar abverlangte und einen 17jährigen jungen Mann aus Schottland in den Suizid trieb.

„Operation Spade3 “ in Kanada hatte insgesamt 45 Terabyte an Daten mit Missbrauchs-darstellungen ermittelt. Ausgedruckt auf Papier und hochkant aneinandergelegt entsprach das einem Papierstapel von 1.125 Kilometern Höhe – das entspricht der Strecke Berlin – Venedig. Ins Visier der Ermittler geriet auch der damalige MdB und Vorsitzende des NSU-Ausschusses, Sebastian Edathy4 . Ein Fall, der in Deutschland für viel Aufmerksamkeit und eine wichtige Debatte sorgte, nämlich um die Frage, warum es legal sein sollte, Nacktbilder oder -videos von Kindern kommerziell zu handeln.5

Thema war auch die wachsende Zahl intimer Selfies und ihre risikoreiche Verbreitung im Netz.6 Eine Kurz-Untersuchung7 der „Internet Watch Foundation“ aus Großbritannien analysierte und verfolgte über den Zeitraum von vier Wochen insgesamt 12.224 sexualisierte Selbstabbildungen und Videos auf 68 Websites: 7.147 Bilder, 5.077 Videos und 5.001 Kombinationen von Bildern und Videos. Die IWF fand 10.776 dieser verfolgten Abbildungen/Filme auf sogenannten parasitären, häufig pornografischen Webseiten wieder. Das bedeutet, 88% der Inhalte wurden der originalen Quelle entnommen und auf anderen Seiten in anderen Zusammenhängen eingefügt. In sehr kurzer Zeit bestätigte die IWF, sobald ein Foto oder Film online ist, geht jegliche Kontrolle darüber verloren. Die Daten werden kopiert, verändert, verbreitet. Es gilt: Einmal im Netz – immer im Netz!

Laut KIM Studie besaßen 26,9 % der 6-9jährigen sowie 68,9% der 10-13jährigen ein eigenes Smartphone.8 79% der 12-13jährigen verfügten über Internetzugang.9

Sexualisierte Gewalt gegen Kinder im digitalen Zeitalter – ein Blick in die Gegenwart

An der folgenden kurzen Auflistung einiger ‚spektakulärer Fälle‘ und Schlagzeilen der vergangenen fünf Jahre (2016 bis 2021) sehen wir: In den meisten Fällen sexualisierter Gewalt an Mädchen und Jungen spielen digitale Medien längst eine (Haupt-)Rolle. Eine Tatsache der wir uns dringend stellen müssen.

  • Elysium (Wikipedia)10
  • Staufener Missbrauchsfall (Wikipedia)11
  • Stiftung Warentest: Spiele-Apps im Test. Alles andere als kindgerecht (24.09.2019)12
  • New York Times: Video Games and Online Chats are ‘Hunting Grounds’ for Sexual Predators (07.12.2019)13
  • Tagesspiegel: Wie Gaming-Chats zunehmend Pädokriminelle anlocken (08.12.2019)14
  • Missbrauchsfall Lügde (Wikipedia)15
  • Missbrauchskomplex Bergisch-Gladbach (Wikipedia)16
  • ZDF: Mehr als 400.000 Mitglieder. BKA sprengt Kinderporno-Plattform im Darknet17 (03.05.2021)
  • Deutschlandfunk: Cybergrooming: Online-Chats und -Spiele als Einfallstor für sexuellen Missbrauch18 (24.05.2020)
  • WDR: Bundesweiter größter Missbrauchskomplex wird vor einem Jahr in Münster publik (07.6.2021)19
  • FAZ: Gefahr Cybergrooming: Täter im Kinderzimmer (28.06.2021)20

21

Sexualität und sexuelle Gewalt im Zeitalter des digitalen Exhibitionismus

„Es ist schon erstaunlich. Alle leben wir unsere Beziehungen digital und dann denken wir ausgerechnet sexuelle Beziehungen finden nur analog statt?“, fragt selbstkritisch verwundert eine Fachfrau und Mutter während einer Fortbildung von Innocence in Danger e.V.

Eine gute Frage, die aufzeigt, wie sehr sich Pädagogik und psychosoziale Versorgung der digitalen Dimension menschlicher Interaktion immer noch verwehren.

Heute ist mindestens eine*r von drei Internetnutzer*innen minderjährig.22 Die US-Soziologin Jean Twenge spricht gar von der iGeneration. Damit meint sie die erste Generation, die ihre gesamte Adoleszenz mit dem Smartphone verbringt. Laut Twenge führe dies zu vielen Wellenbewegungen bezüglich des Wohlbefindens, der sozialen Interaktionen und der Art, wie die iGen über die Welt denke. Festzuhalten seien ein messbar niedrigeres Wohlbefinden nach mehr Stunden der Bildschirmzeit im Vergleich zur analogen Interaktion mit Freund*innen.23

Digitales sexuelles Handeln

Digitale Medien erweitern den sexuellen Handlungsspielraum. Dies können Menschen für sich in Anspruch nehmen oder auch nicht. Findet die digitale sexuelle Handlung auf Augenhöhe und einvernehmlich statt, ist alles in Ordnung. Schwierig wird es dann, wenn Druck, Drohungen und (andere) Formen der Gewalt ins Spiel kommen. Und wenn intime Bilder oder Filme des Partners bzw. der Partnerin ohne Einvernehmen an andere weitergeleitet werden.

Genau da liegt das Risiko digitaler sexueller Handlungen. Nicht in Schwangerschaften oder der Übertragung von Krankheiten, sondern in der fotografischen oder filmischen Dokumentation eines intimen Moments. Wir gehen das Risiko ein, dass diese intimen Momente an Dritte weitergeleitet werden. Ohne unsere Zustimmung oder auch nur unser Wissen.

Es stellt sich also die grundsätzliche Frage, wie digitale Beziehungen beschaffen sind, wenn sie von Anfang an kompromittierbar scheinen. Oder, einfacher: Wie sehr vertraue ich digitaler Intimität?

Sprechen wir von Sexting – ein Wortspiel aus Sex und Texting, dem englischen Wort für „SMS schreiben“ –, kommt es in aller Regel zu vielen Missverständnissen. Anstatt aufzuklären, so wie wir über Sex aufklären, wird das Verhalten als solches problematisiert. Kommt es dann zu ungewollter Weiterverbreitung intimer Bilder, findet häufig fast automatisch eine dramatische Schuldumkehr statt. Das Opfer, also die Person, deren Bild nun ungewollt weiterverbreitet wird — so der unausgesprochene Vorwurf –, ist doch eigentlich selber schuld. „Das weiß man heute doch nun wirklich besser.“ Auch die Aufklärung richtet sich immer an potentielle Opfer und nimmt die Haltung ein, Sexting sei per se schädlich. Das ist in etwa so, als sagten wir: „Knutschen ist gefährlich“ und „Sex sollte man am besten nicht haben“. Kaum eine Prävention jedoch richtet sich an diejenigen, die intime Bilder weiterverbreiten und damit großen Schmerz zufügen. Also die Verursacher, die Verbreiter, die Täter.

Wir nennen die Weiterverbreitung intimer Bilder „Sharegewaltigung“.24 Wer intime Bilder anderer verbreitet, fügt den Opfern Traumata zu. Verantwortung dafür tragen immer die, die das Bild weiterverbreiten, und nicht etwa das Opfer. Diese wichtige Tatsache sollte dringend in der Prävention, aber auch bei der Intervention beachtet werden. Wir sollten über Risiken digitaler Sexualität aufklären. Darüber, wie man und frau gut und achtsam in einer sexuellen Beziehung mit sich selbst und ihrem Gegenüber umgehen. Darüber, was geschieht, wenn ich meinem Gegenüber Gewalt antue – nicht nur darüber, was geschieht, wenn mir Gewalt angetan wird. Wir sprechen von der dringend notwendigen Vermittlung digitaler Beziehungskompetenz. Etwas, das in keiner Aufklärungs- und Präventionseinheit für die iGen mehr fehlen darf.

Gefährdungen durch digitale Medien im Alltag von Kindern und Jugendlichen 

Kinder und Jugendliche setzen sich ungewollt aufgrund ihres Bedürfnisses nach Anerkennung, ihrer Neugier, ihrem Erprobungsdrang und Kommunikationsverhalten digital häufig Risiken aus, die sie aufgrund ihres Alters und ihrer Reife überhaupt nicht erkennen können. In der Erprobung der digitalen Welt werden sie allerdings viel zu häufig allein gelassen. Nach wie vor scheuen sich die Erwachsenen, digitale Spiele auszuprobieren oder gar „Let’s Plays“ zu schauen, um zu sehen, wie das Spiel funktioniert. Von „Tik Tok“ haben viele noch nie gehört und auch „Fortnite“ ist nicht so recht bekannt. Obwohl das Orte sind, an dem viele Kinder und Jugendliche sich aufhalten und die zugleich die potentiell gefährlichsten Spielplätze sind, die es derzeit gibt.

Denn geht es um das Digitale, verwechseln wir allzu gern Anwenderkompetenz mit Lebenskompetenz. Wir verdrängen, dass Kinder und Jugendliche allein aufgrund ihrer hirnphysiologischen Entwicklung nicht in der Lage sein können, ihr (digitales und damit hochkomplexes) Handeln wirklich zu reflektieren und zu verstehen. Der präfrontale Cortex, die Hirnregion, die für eine situationsangemessene Handlungssteuerung und die Regulation emotionaler Prozesse zuständig ist, ist erst mit Anfang 20 vollends ausgebildet. Internetfähige Handys bekommen Kinder jedoch bereits ab sechs Jahren.

Die Veränderung der Beziehungsgestaltung verändert auch die Peer-Gewalt, Gewalt unter Gleichaltrigen. Das gilt für Erwachsene genauso wie Jugendliche. Der Begriff „Revenge Porn“ („Rache Porno“) wurde nicht für Jugendliche, sondern für Erwachsene geprägt. Der Anteil derer, die sich aktiv über digitale Wege übergriffig und gewalttätig verhalten, steigt – auch bei Kindern und Jugendlichen. Die digitale Verbreitung hämischer, verleumderischer oder intimer Inhalte um zu verletzten, entwickelt digital eine wuchtvolle Eigendynamik, der wir unbedingt begegnen müssen, um Kinder zu schützen und Täterkarrieren zu vermeiden.25

Digitale Medien ermöglichen Missbrauch-Tätern oder -Täterinnen zum Beispiel den direkten, ungestörten Kontakt zu Kindern und Jugendlichen. Nie war das soziale Nahfeld so groß wie heute im Zeitalter sozialer Netzwerke und Online-Spiele. Nie hatten es Täter und Täterinnen leichter, in unmittelbaren und vor allem ungestörten Kontakt mit Kindern zu kommen wie über Online-Spiele, Soziale Netzwerke oder Messenger-Dienste. Gleichzeitig gewähren ihnen Profile auf Sozialen Netzwerkseiten oder in Messenger-Gruppen viele Einblicke, die sie zu ihrem Vorteil nutzen. Laut der MiKADO-Studie sind Online-Täter und Täterinnen gut gebildet, eher jung, haben sexuelles Interesse an Jugendlichen und sind überwiegend männlich. Knapp 25% sind Frauen (2015).26

(Cyber-)Grooming

Täter und Täterinnen nutzen häufig den direkten digitalen Draht zu ihren Opfern. Sie suchen digital nach Opfern und/oder nutzen die Medien, um einen bestehenden Kontakt zu intensivieren. Sie bauen Vertrauen auf, erpressen, und sie verbreiten nicht selten Sexting-Fotos oder gar Missbrauchsdarstellungen. Dabei wird das Smartphone zum ultimativen Tatmittel. Mit dem Smartphone ist das Kind für Täter und Täterinnen immer, direkt und vollkommen unbeobachtet erreichbar.

Eine Untersuchung der „Internet Watch Foundation“ (2018) zu sog. „Livestream Missbrauch“ – Missbrauch via Webcam – zeigt, 98 Prozent der Opfer sind jünger als 13 Jahre alt. In 96 Prozent der Fälle werden sie digital zu Hause bzw. im eigenen Zimmer missbraucht.27

Wir halten fest, Täter und Täterinnen nutzen immer alle ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, um zu missbrauchen. Dazu gehören natürlich auch die digitalen. Rechnet man die Daten der MiKADO Untersuchung zu sexuellen Onlinekontakten von Erwachsenen mit Kindern hoch, so haben in Deutschland ca. 728.000 Erwachsene sexuelle Onlinekontakte zu ihnen unbekannten Kindern . Die Studie führt weiter aus, endet ein sexueller Onlinekontakt zwischen Erwachsenen und einem Kind in einer analogen Verabredung, führt dieses Treffen in 100 Prozent der Fälle zu einem physischen sexuellen Kindesmissbrauch.29

Digitale Medien erleichtern Grenzverschiebungen

Digitale Medien führen zu einer Vielzahl von Grenzverschiebungen. Plattformen wie Facebook, WhatsApp, Snapchat, Instagram oder Tik Tok laden ein zur Selbstdarstellung, ja sie verordnen geradezu den digitalen Exhibitionismus.

In der „Generation Selfie“ posten bereits 26 % der Jungen und 28 % der Mädchen im Alter von elf Jahren Selfies.30 Werden sie zwölf Jahre alt, sind es 38 % der Jungen und 46 % der Mädchen. Und mit 13 Jahren sind es 41 % der Jungen und 61 % der Mädchen. Gleichzeitig stellt die Studie fest, sind nur 52 % der Mädchen und 67 % der Jungs mit ihren Körpern zufrieden. 23 % der befragten Mädchen und 16 % der befragten Jungen haben mit dem Posten ihrer Selfies bereits negative Lebenserfahrungen gemacht. Gleichzeitig produzieren und verbreiten sie so selbst missbrauchbare Bilder und Filme von sich und anderen. Eine treibende Kraft dabei ist die Suche nach Anerkennung. 40 % der britischen Jugendlichen zwischen 12 und 20 Jahren gaben in einer Untersuchung an, sich wie ein Niemand zu fühlen, wenn sie keine Likes für ein Selfie erhielten31 und 70 % der befragten Jugendlichen gaben zu, sich selbst anderen gegenüber online schon erniedrigend und abschätzig verhalten zu haben. Selbstgenerierte Bilder (Selfies) machen es grenzverletzenden Menschen leicht, sich verletzend oder gar ätzend zu äußern.

Exkurs: Mädchen und Jungen, deren sexueller Missbrauch verbreitet wurde 

Opfer sexualisierter Gewalt sind zunehmend damit konfrontiert, dass die Täter den Missbrauch dokumentieren und ins Netz stellen. In 2019 meldeten Technologie-Unternehmen über 45 Millionen Missbrauchsdarstellungen von Kindern, mehr als doppelt so viel wie im Vorjahr (New York Times, 28.09.2019).

Diese Verbreitung führt zu einer Endlosschleife der Traumatisierung für die Opfer. Es fühlt sich für sie an, „als sei ihr Missbrauch eine öffentliche Tatsache“, die nie mehr gelöscht werden kann. So äußern sich Betroffene aus vier Staaten, die vom „Canadian Centre for Child Protection“ in einer internationalen Studie befragt wurden. „Innocence in Danger“ war für die Befragung der deutschen Betroffenen verantwortlich (2017).  Im Laufe von 1,5 Jahren haben 150 Betroffene aus Kanada, den USA, den Niederlanden und Deutschland an der qualitativen Befragung teilgenommen. Die Befragung ist weiterhin für Betroffene zugänglich32 .

  • 56 % der Betroffenen gaben an, dass der Missbrauch vor dem vierten Lebensjahr begann. 87% waren 11 Jahre oder jünger. 42% wurden mehr als 10 Jahre lang missbraucht.
  • 58% der Befragten gaben an, von mehr als einer Person missbraucht worden zu sein. 82% der primären Straftäter*innen, die an Szenarien mit mehreren Täter*innen beteiligt waren, waren Eltern oder Familienangehörige des Kindes.
  • Mindestens 74 Befragte (fast 50%) waren Betroffene organisierter sexueller Gewalt (Missbrauch, bei dem Kinder von mehreren Straftätern sexuell missbraucht werden).
  • 70% der Betroffenen befürchteten, von jemandem wegen der Aufzeichnung ihres sexuellen Missbrauchs erkannt zu werden. In der Tat gaben 30 Befragte an, von einer Person identifiziert worden zu sein, die ihre Missbrauchsdarstellungen gesehen hatte.
  • 67% der Betroffenen wurde physisch gedroht, unter anderem wurde ihnen gesagt, dass sie sterben oder getötet würden.

Das enorme Ausmaß macht „Projekt Arachnid33“ deutlich, ein Programm, das das Internet auf bereits polizeibekannte Missbrauchsabbildungen durchsucht. Der Webcrawler des Canadian Center verschickt pro Tag über 1000 „Notice and Take Down“ Mitteilungen weltweit – das sind Amtshilfeersuchen, um dokumentierten sexuellen Missbrauch zu beseitigen.

Forderungen für einen funktionierenden digitalen Kinderschutz

Wir von Innocence in Danger e.V. fordern, dass

  • Anbieter geschützte Nutzungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche schaffen.
  • Informationen und Hinweise zu Rat und Hilfe für kindliche und jugendliche und deren Eltern sichtbar und verständlich auf den jeweiligen Plattformen bereitgestellt sind.
  • aktiv verbindliche Kooperationen für den digitalen Kinder- und Jugendschutz eingegangen werden.
  • Anbieter ein gutes Beschwerdemanagement einführen. Dazu gehört u.a.
  • der sofort erkennbare Kontakt (z.B. Button) für Beschwerden,
  • ausgebildetes und bezahltes Fachpersonal einzusetzen (schnelle, qualifizierte Rückmeldung),
  • die tatsächlich konsequente Weiterverfolgung der Beschwerden und/oder Meldungen bei der Polizei).

Wir fordern vom Gesetzgeber Verantwortung zu übernehmen, indem Unternehmen und Anbieter sozialer Netzwerke und Online- Spiele etc., staatlich kontrolliert und verpflichtet werden,

  • die Qualitätsstandards der Beschwerdemöglichkeit einzuhalten und zu sichern sowie
  • sich aktiv für digitalen Kinder- und Jugendschutz einzusetzen.

 

Fazit

Digitale Medien verändern Gesellschaft und auch Phänomene wie Gewalt und sexuelle Gewalt nachhaltig. Aus „Sexting“ wird „Sharegewaltigung“ und „Missbrauch“, aus „Pöbelei“ wird „Cybermobbing.“ Insbesondere für Kinder und Jugendliche bergen die digitalen Medien, Sozialen Netzwerke und Kommunikationsplattformen enorme Herausforderungen. Neben vielen Chancen finden sich dort mindestens ebenso viele Risiken für Mädchen und Jungen. Wie sollen sich Kinder und Jugendliche befreien, wenn sie in eine „digitale Falle“ getappt sind?

Kinder und Jugendliche brauchen Menschen, die ihnen die Freude am Internet zugestehen, sie begleiten und sie auf mögliche Risiken bei der Nutzung des Internets aufmerksam machen. Sie brauchen Menschen, die ihnen sagen, wie Täter oder Täterinnen vorgehen und wie sie sich am besten schützen können. Sie brauchen Erwachsene, die sie verstehen, ihnen zuhören und helfen – in der digitalen Welt umso mehr.

Es ist wichtig zu begreifen, welchen Einfluss die digitale Dynamik auf unser Leben, unsere Beziehungen und Bindung hat. Wir sollten fragen: Wie beeinflussen digitale Medien die Entwicklung und Wahrnehmung des Selbstbewusstseins? Was bedeutet intimstes digitales sexuelles Handeln, wenn es schon so schwerfällt, analoge Gesprächskultur in die digitale WhatsApp-Gruppe zu transferieren? Wie kann eine gute, gesunde analog-digitale Beziehungsgestaltung gelingen? Fragen, bei denen es sich sehr lohnt, sie auch mit Kindern und Jugendlichen zu besprechen. Dabei helfen die Präventionsprojekte von „Innocence in Danger e.V.“ (www.innocenceindanger.de).

Begleiten wir Kinder in Not, müssen wir selbstverständlich auch ihre digitalen Lebensbedingungen mit in Betracht ziehen, um ihnen bei der Bewältigung der Herausforderungen oder gar verletzender Lebensereignisse gut zu helfen. Wir sollten begreifen, was z. B. die digitale Verbreitung intimer Bilder oder gar die Darstellung von Missbrauch für Betroffene bedeutet, und lernen, diese gut in der Bewältigung dieser schmerzlichen Realität zu unterstützen.

Wie das gehen kann, vermittelt zum Beispiel die Interventionsschulung von Innocence in Danger e.V.: Stoppt Sharegewalt (www.stoppt-sharegewalt.de). 

Definitionen

Cybergrooming:
Manipulation eines Mädchens oder Jungen mittels digitaler Medien hin zu sexuellen Handlungen, entweder vor einer Webcam oder dann bei einem Treffen offline.

Livestream-Missbrauch:
Täter und Täterinnen loggen sich in spezielle Foren ein und geben Regieanweisungen, nach denen das Kind vor der Webcam irgendwo auf der Welt missbraucht wird.

„Sharegewaltigung“
setzt sich zusammen aus „Share“ (engl. Teilen) und „Gewalt“ zusammen und spielt ganz bewusst auf den Begriff der Vergewaltigung an. „Sharegewaltigung“ passiert, wenn z.B. ein selbst- oder fremdgeneriertes digitales intimes Dokument (Text, Bild, Video) ohne Wissen bzw. Einverständnis an Dritte weitergeleitet wird. Der Begriff stellt den sexualisierten Gewaltaspekt einer solchen Handlung in den Vordergrund und ist auch als Gegenvorschlag zu dem aktuell kursierenden Begriff „Revenge Porn“ zu verstehen. Denn: Verantwortlich für die Tat ist der Täter bzw. die Täterin, nie das Opfer.

Sexting
ist eine neue, digitale Form sexuellen Handelns. Sexting bedeutet das digitale Teilen sexueller Inhalte – Text, Bild oder Film – zwischen zwei oder mehr Menschen. Geschieht dieses Teilen einvernehmlich und freiwillig, ist es eine sexuelle Handlung, die wie jede sexuelle Handlung mit Risiken verbunden ist. In diesem Fall wird das digitale Dokument – der Text, das Bild, der Film – zum Risiko, denn es besteht die Möglichkeit, dass dieses Dokument einseitig weiterverbreitet und/oder als Druckmittel genutzt wird.

Der Begriff „SEXtortion“ setzt sich aus „Sex“ und „Extortion“ (engl. Erpressung) zusammen. Zu SEXtortion ließe sich nicht nur das Erpressen mit, sondern auch das Erpressen von Bildern zählen.

 

1 https://www.tz.de/welt/erfolgreiche-razzia-gegen-paedophilen-netzwerk-aschersleben-zr-3526413.html

2 https://www.wlz-online.de/panorama/interpol-jagt-sex-erpresser-5468812.html

3 https://de.wikipedia.org/wiki/Operation_Spade

4 https://de.wikipedia.org/wiki/Sebastian_Edathy

5 https://www.n-tv.de/politik/Edathy-Affaere-Kinderschuetzer-wollen-Nacktbilder-verbieten-article12296591.html

6 https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/selfies-von-kindern-als-paedokriminelle-handelsware-12849419.html

7 https://www.iwf.org.uk/sites/default/files/inline-files/IWF_study_self_generated_content_online_011112.pdf

8 http://www.mpfs.de/fileadmin/JIM-pdf13/JIMStudie2013.pdf

9 Internationales Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen: Grunddaten Kinder und Medien 2013

10 https://de.wikipedia.org/wiki/Elysium_(Website)

11 https://de.wikipedia.org/wiki/Staufener_Missbrauchsfall

12 https://www.test.de/Spiele-Apps-im-Test-Alles-andere-als-kindgerecht-5197290-0/

13 https://www.nytimes.com/interactive/2019/12/07/us/video-games-child-sex-abuse.html?smid=pl-share

14 https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/panorama/sexueller-missbrauch-in-online-spielen-wie-gaming-chats-zunehmend-paedokriminelle-anlocken/25312262.html

15 https://de.wikipedia.org/wiki/Missbrauchsfall_Lügde

16 https://de.wikipedia.org/wiki/Missbrauchskomplex_Bergisch_Gladbach

17 https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/kinderpornografie-darknet-boystown-104.html

18 https://www.deutschlandfunk.de/cybergrooming-online-chats-und-spiele-als-einfallstor-fuer.724.de.html?dram:article_id=477289

19 https://www1.wdr.de/nachrichten/westfalen-lippe/ein-jahr-missbrauchskomplex-muenster-102.html

20 https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/kriminalitaet/cybergrooming-wie-taeter-sich-im-netz-an-kinder-ranmachen-zeigt-die-doku-gefangen-im-netz-17407340.html

21 https://www.bitkom.org/sites/default/files/2019-05/bitkom_pk-charts_kinder_und_jugendliche_2019.pdf

22 Livingstone, S., Carr, J. & Byrne, J. (2015): One in three: Internet governance and children’s rights (Global Commission on Internet Governance. Paper Series: NO. 22. 2015). Im Internet: https://www.cigionline.org/sites/default/files/no22_2.pdf

23 Twenge, J. M. (2017): iGen. Why today’s super-connected kids are growing up less rebellious, more tolerant, less happy and completely unprepared for adulthood. New York: Atria Books.

24 Innocence in Danger e.V. (2018): Versorgung von Mädchen und Jungen, deren Missbrauchsabbildungen (Kinderpornografie) bzw. Sextingabbildungen digital verbreitet werden und notwendige Lehren für eine gute Prävention an Schulen (https://www.stoppt-sharegewalt.de/wp-content/uploads/2019/06/2018-2015_Studie2_IID_AKM.pdf).

25 Maschke, S.; Stecher, L. (2017): Sexualisierte Gewalt in der Erfahrung Jugendlicher. Öffentlicher Kurzbericht. http://www.speak-studie.de/assets/uploads/kurzberichte/201706_Kurzbericht-Speak.pdf

26 MiKADO. Missbrauch von Kindern: Aetiologie, Dunkelfeld, Opfer. Forschungsprojekt der Universität Regensburg, gefördert vom BMFSFJ. Webseite zum MiKADO-Projekt. Im Internet: http://www.mikado-studie.de/index.php/home.htm (derzeit nicht abrufbar).

27 Internet Watch Foundation (2018): Trends in Online Child Sexual Exploitation: Examining the Distribution of Captures of Live-streamed Child Sexual Abuse. Cambridge.

28 Hochrechnung basierend auf MiKADO und der ARD/ZDF Onlinestudie 2015.

29 MiKADO. Missbrauch von Kindern: Aetiologie, Dunkelfeld, Opfer. Forschungsprojekt der Universität Regensburg, gefördert vom BMFSFJ. Webseite zum MiKADO-Projekt. Im Internet: http://www.mikado-studie.de/index.php/home.htm (derzeit nicht abrufbar).

30 Bauer Media Group (2016): Bravo Dr. Sommer Studie 2016. München: Bauer Media Group.

31 Ditch the Label (2017): The Annual Bullying Survey 2017. Brighton: Ditch the Label. Im Internet:  https://www.ditchthelabel.org/wp-content/uploads/2017/07/The-Annual-Bullying-Survey-2017-1.pdf (Zugriff: 10.02.2020).

32 https://www.protectchildren.ca/app/de/csa_imagery#csa_imagery-survivors_survey

33 https://www.protectchildren.ca/app/en/csa_imagery-arachnid